Kleine Geschichte von Hoffmanns Hotel [1]
Die Geschichte des Hotels beginnt im 18. Jahrhundert. Was vorher war, ist nur zu vermuten: Ganz am Anfang ein Platz vor der Stadt gegenüber dem Heilig-Geist-Hospital, und mit diesem nach 1300 beim Bau der Stadtmauer in das Stadtgebiet einbezogen. Zu diesem Zeitpunkt wird die Aufteilung in drei große Hausstellen entstanden sein: heute Nr. 25, 26 und 27. Das Grundstück war unter den drei genannten das kleinste: nur so breit wie das heutige Haupthaus. Der Lage unmittelbar am Parchimer Tor entsprechend, wird es sich schon im Mittelalter, und dann weiter über die Jahrhunderte, um ein Gasthaus gehandelt haben.
Für das heutige Haus wurde in der Linie der Eigentümer das Jahr 1750 als Baujahr überliefert. Ordnet man es in die kleine Zahl vergleichbarer Gebäude ein, dann ist das durchaus glaubwürdig. Das zweigeschossige Fachwerkhaus wurde auf nahezu quadratischem Grundriß errichtet, über dem steinernen Sockel der teils noch mittelalterlichen Keller. Man wollte modern sein, baute also kein Giebelhaus, wie damals in Perleberg üblich, sondern baute traufständig, d.h., man drehte das Dach parallel zu Straße, die Giebel zur Seite.
Der Neubau verdankte sich ganz offensichtlich einer denkbar günstigen Verknüpfung räumlicher und zeitlicher Koordinaten: der richtige Ort zur rechten Zeit. Das erste betrifft die Lage genau auf halben Wege zwischen Berlin und Hamburg. Die Chaussee von Berlin nach Hamburg gab es noch nicht, sie wird, die heutige B 5, erst 1827 Perleberg erreichen. Doch es gab, seit der Große Kurfürst 1656 das Postwesen neu organisiert hatte, den Postweg von Berlin nach Hamburg. Trotz ungepflasterter Wege, Schlaglöcher usw. bot er an geeigneten Orten ein Posthaus, wo ein Posthalter das Auswechseln der Postpferde besorgte und wo Übernachtungen möglich waren. Auf dem Postweg kam regelmäßig der Postwagen durch Perleberg: Das Perleberger Postgebäude, das heute nicht mehr Post ist, steht an genau der Stelle, wo auch im 18. Jahrhundert die Postkutschen ankamen und abfuhren.
Das allein aber hätte nicht ausgereicht. In der französischen Reisebeschreibung eines großen Herrn, Dedos II. zu Inn- und Knyphauses auf Schloß Lütetsburg und Präsident der ostfriesischen Landstände, hießt es im Jahre 1683 lapidar: „Am Nachmittag fuhren wir durch Perleberg; das ist eine kleine Stadt im Herzogtum Brandenburg, die nur noch den äußeren Anschein wahrt und wo man die gleiche Rolandstatue sieht. Abends blieben wir in Kletzke…“ [2] Das hießt doch wohl, daß es in Perleberg keine standesgemäße Unterkunft gab, wohl aber im Quitzowschloß in Kletzke. Denn die Post war schnell, und für die Strecke von Hamburg nach Kletzke brauchte man, allerdings bei durchfahrener Nacht, nur zwei Tage.
Zum andern war es also, und vor allem, der richtige Zeitpunkt. Preußen hatte sich vom Siebenjährigen Krieg erholt, die Krisen von 1763 und 1773 waren vergessen, Handel und Manufakturen expandierten, Hamburg wie Berlin zogen immer mehr Bewohner an, der Verkehr zwischen den Städten verdichtete sich und differenzierte sich. Das 18. Jahrhundert ist die Zeit, in der im modernen Sinne das Reisen begann, eine selbstverständliche, von Geschäften ebenso wie von Neugier, Kurbesuchen, wissenschaftlichen und künstlerischen Beziehungen und Interessen getriebene Mobilität der oberen Klassen. [3] Entsprechend wurde der Gasthof zu einem Zentrum des lokalen Interesses, der Geselligkeit und der Begegnung von Einheimischen und Fremden: er wurde aus einer Unterkunft zu einem Kulturort. Kurz und gut, es war, wie vielerorts, so auch in Perleberg nun Zeit, daß neben dem bescheidenen Posthaus auch ein Gasthof für anspruchsvollere Reisende entstand, der es empfahl, hier die Reise zu unterbrechen.
Der Gasthof „Zum Weißen Schwan“ war der erste dieser neuen Generation von Gasthöfen in Perleberg, und er blieb für mehr als ein Jahrhundert das erste Haus am Platz. Zwar gab es gleichzeitig noch andere Gasthöfe, so am Dobberziner Tor, also für die Berlinankömmlinge gedacht, die „Goldene Krone“. Aber letztere, heute „Deutscher Kaiser“, blieb noch auf lange Zeit eine einfache Absteige, die noch dazu nur neben einem Handwerk betrieben wurde. [4] Dieser große Gasthof des 18. Jahrhunderts hat sich, als Gebäude, trotz aller Umbauten für wechselnde Bedürfnisse im wesentlichen erhalten.
Ins Licht der Geschichte trat der „Weiße Schwan“ erst durch einen Kriminalfall, das niemals ganz aufgeklärte Verschwinden des englischen Diplomaten Benjamin Bathurst. Das geschah am 25. November 1809. Bathurst war nach Wien entsandt worden, um um ein Bündnis zwischen Österreich und England gegen Napoleon voranzutreiben. Nach der Einnahme Wiens durch Napoleon wurde Bathurst nach London zurückbeordert, wobei er, aus Sicherheitsgründen, den Landweg über Berlin und Hamburg wählte. Mit einem preußischen Paß versehen, traf er mittags in Perleberg ein und wollte eigentlich gleich weiterreisen, schob die Abreise aber, sichtlich beunruhigt, immer wieder auf. Erst gegen Nacht entschloß er sich zur Abreise, ging noch einmal vom Postwagen weg und wurde nie wieder gesehen. Die vom Stadtkommandanten v.Klitzing sofort angeordnete umfangreiche Suche, – man legte zum Beispiel die Stepenitz trocken – blieb vergeblich. [5]
Der älteste Bericht dazu erschien erschien im Januar 1810 in der Londoner Times und brachte bereits die Vermutung, Bathurst sei von der französischen Polizei beseitigt worden. Das kann auch heute als gesichert gelten. Der preußische Polizeichef war mit französischen Spionen nicht anders umgegangen, [6] und daß Napoleons Polizei ein dichtes Netz geknüpft hatte, ist vielfach belegt. – Alles andere – daß der kostbare Pelz, den Bathurst im Gasthof gelassen hatte, bei einer Perlebergerin gefunden wurde, die Auffindung offenbar seiner Hose im Wald – war zwar geeignet, einen ganzen Stamm lokaler Gerüchte zu erzeugen, wonach es sich um simplen Raub gehandelt habe, blieb aber unbewiesen, so daß die Frankreichpiste sich als die wahrscheinlichste erwies, nicht zuletzt dadurch, daß eine offizielle Pariser Zeitungsnachricht offensichtlich den Versuch darstellt, eine falsche Spur zu legen.
Nach diesem historischen Auftritt folgt wieder nur Dunkel. Es wäre nur durch aufwendige Recherchen aufzuhellen. Allerdings erfolgte bald darauf, vermutlich um 1820, als sich Preußen wirtschaftlich wieder einigermaßen gefangen hatte, ein einschneidender Umbau des Hauses. Hier muß also eine entschlossene Person zugegriffen haben. Die alte Treppe wurde beseitigt und durch eine Konstruktion ersetzt, deren Merkwürdigkeit nur dadurch zu erklären ist, daß sie jetzt nicht nur das Haus selber, sondern einen neu errichteten großen Saal zu erschließen hatte. Dieser Saal – er liegt noch ganz altertümlich in Obergeschoßlage – ist der als Ruine noch bestehende. Gleichzeitig wurde das Obergeschoß des Vorderhauses umgebaut, so daß es zu mehreren neuen Gasträumen kam. Dafür mußte allerdings der vordere Obergeschoßflur aufgegeben und, wenn auch wieder nur im Obergeschoß, die Fassadensymmetrie durch Verschiebung zweier Fenster erheblich gestört werden.
Im Zuge dieser Maßnahmen, die den Gfasthof auf ein zeitgemäßes höheres Niveau heben sollten, erfolgte offenbar auch die Umbenennung des Hauses: „Hotel Stadt London“. Man kann in dieser ehrgeizigen Namenswahl einen Nachhall des Ereignisses von 1809 sehen – vermutlich reagierte man auf das überregionale, zumal englische Interesse am mysteriös verschwundenen englischen Diplomaten. Der neue Name entspricht aber überhaupt dem weltoffenen Zeitgeist und schaut zugleich wohl auch nach Hamburg, im übrigen bezeichnet er eine Kategorie über dem Niveau von Stadt Hamburg, Stadt Berlin oder, später, Stadt Magdeburg, alles konkurrierende Perleberger Adressen. Denn selbstverständlich war weiterhin allein „Stadt London“ der Perleberger Treffpunkt des Prignitzer Adels, der Gans, Saldern, letzten Quitzows, Wilamowitz-Möllendorf, Winterfeld usw.
Er war es natürlich zugleich für die Offiziere der Perleberger Garnison – dies aber erst wieder ab 1849, als, übrigens aus Gründen des Zivilschutzes, die 1. Eskadron des 6. Kürassierregiments nach Perleberg verlegt wurde. [7] Für diese Zeit bewahrt das Perleberger Stadt- und Regionalmuseum einen aufschlußreichen Stahlstich aus dem Jahr 1853 auf. Der Stich stellt zum einen die erste Abbildung des Hotels dar, die einzige, die es noch als Fachwerkbau und mit dem alten Einfahrtstor zeigt, das 20 Jahre später geschlossen wurde zugunsten der Vergrößerung der Gaststube, es bildet also ein unersetzliches Zeugnis zur Baugeschichte. Zum andern ist der Entstehungsanlaß interessant: Der Stich zeigt badische Offiziere beim „Austausch“. Dazu schreibt Franz Grunick in seiner Chronik: „Am 25. Mai 1850 fand zwischen der badischen und der preußischen Regierung ein Uebereinkommen statt, wonach badische Truppen in preußische Garnisonen und preußische Truppen in das Herzogtum Baden verlegt werden sollten. …und so wurde hier, Anfang Juni 1850, die Stadt mit drei Kompagnien des Großherzoglich Badischen Infanterie-Bataillons Nr.3 bestehend aus 21 Offizieren und Kriegsbeamten, 570 Unteroffizieren und Gemeinen, desgleichen 4 Pferden belegt.“ [8] Das war aber ein Ereignis nur von wenigen Monaten. Erst 1860 erhielt Perleberg mit dem 2. Brandenburgischen Ulanenregiment Nr.11 wieder eine dauerhafte Garnison.
Auf sicherem Boden, was die weitere Entwicklung des Hotels betrifft, steht man erst mit dem Einsetzen der Bauakten, 1873. Da heißt der Besitzer Fr(iedrich) Borchert. Anläßlich einer einschneidenden Baumaßnahme – der Schließung der Toreinfahrt im Vorderhaus und der Öffnung einer neuen weit hinten in der Gasse – gibt ein Situationsplan in diesem Jahr erstmals ein genaues Bild des Grundstücks: Der heutige Saal, im Unterschied zu Vorderhaus und kleinem Seitenflügel in Backstein errichtet, ist bereits vorhanden. Beobachtungen im Vorderhaus legen nahe, daß er schon um 1820 errichtet wurde, in unmittelbarer Verbindung mit der Biedermeiertreppe des Hotelgebäudes. Das anschließende Torgebäude ist als Baumaßnahme gekennzeichnet. Dahinter lag damals ein massige Quergebäude, ein Fachwerkbau mit Ziegeldach: Scheune und Pferdestall. Auffällig ist, daß dieses Gebäude – es deckte sich flächenmäßig weitgehend mit dem heutigen backsteinernen Stallgebäude – mit einem Viertel seiner Grundfläche über die Grenze zum Nachbarn Nr. 25 hinaus ragt.
Leider haben die damals im Vorderhaus für den gehobenen Status als „Hotel Stadt London“ vorgenommenen Innenausbauten nicht den Weg in die Bauakten gefunden. Aber selbstverständlich diente die Schließung der Durchfahrt dazu, im Erdgeschoß mehr Gastraum zu gewinnen. Daß der Betrieb mehr Raum beanspruchte, zeigt auch der eher provisorisch wirkende Anbau eines kleinen eingeschossigen Seitenflügels links, als Gaststube, den 1877 offenbar der Pächter unternahm („Hotelbesitzer Conrad“ – für den Maurermeister war der Unterschied zwischen Pächter und Besitzer belanglos).
„Eine neue Blütezeit begann, als der in Wismar geborene Wilhelm Hoffmann und seine Frau Frieda das Hotel erwarben.“ [9] Kaum erworben, ging Hoffmann an eine Aufwertung des Saales. Im Juli 1889 beantragte er nämlich einen Durchbruch vom Saal zum Obergeschoß des Zwischenbaus, eine Maßnahme, die bis heute, in der etwas engeren Fassung von 1935, sichtbar geblieben ist. Im zugeschalteten Raum entstand ein „Musikorchester“, eine Musikerbühne für Tanzveranstaltungen. Das rief allerdings dann die Bauaufsicht auf den Plan. Denn 1891 sah sich Hoffmann gezwungen, dem Amt genaue Angaben über Erschließung, Nutzung und Besucherfrequenz zu machen. Darüber erfährt man u.a., daß er mit 344 Sitzplätzen rechnete (2 Pers./m2!).
Für einen unverhofften Schub am Vorderhaus sorgte gleichzeitig die Brandchronik. Im November 1891 brannte das Nachbargrundstück Nr.26 des Kaufmanns und Brauereibesitzers Fettback ab, zwei Wohnhäuser und das große Seitengebäude, ein Stall. [10] Ein schwerer Verlust für das Stadtbild war vor allem das mächtige giebelständige Fachwerk unmittelbar neben Stadt London, das auf dem Stahlstick von 1853 zu sehen ist, auf zwei niedrigen Wohngeschossen zwei umfangreiche Speicherböden, die einmal etwas vom neuen Reichtum der regionalen Handelsstadt zeigen, wie er sich nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges wieder gebildet hatte. Der Bauwich zwischen beiden Gebäuden hatte offensichtlich ausgereicht, um das Hotel nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Das Grundstück wurde verkauft, und Hoffmann nutzte die Gelegenheit, um vom Nachbesitzer den angrenzenden Geländestreifen des Grundstücks Nr. 26 zu erwerben. Darauf errichtete er 1994 das bestehende zweistöckige Torhaus. Das war für den Status des Hotels von entscheidender Bedeutung, kamen doch die adligen Herren von ihren Sitzen in Krampfer, Neuhausen, Dallmin, Stavenow, Retzin, Wolsfhagen usw. im eigenen Gefährt nach Perleberg und wollten Pferde und Wagen unmittelbar auf dem Gelände abstellen. Doch schon aus Konkurrenzgründen war die Maßnahme dringend: Die „Goldene Krone“ am Berliner Ende der Stadt, schon ab 1875 zum Hotel ausgebaut, wurde 1891 mit dem bestehenden ehrgeizigen Neubau als „Hotel Deutscher Kaiser“ wiedereröffnet, und hier gab es natürlich die direkte Einfahrt von der Bäckerstraße aus.
Der neue Anbau war zugleich willkommene Gelegenheit, um die Kappazität des Hauses zu vergrößern. Im Erdgeschoß gewann man damit zwei Wirtschaftsräume, im Obergeschoß vier neue Hotelzimmer, und die Borchert’sche Torfahrt an der Gasse brauchte man nun nicht mehr. 1894 wurde auch das große hintere Quergebäude – Scheune und Pferdestall – abgerissen und durch zwei Neubauten ersetzt, das bestehende Stallgebäude in dunkelrotem Backstein links, rechts das an der Gasse liegende, aber nur zum Hof erschlossene Wohnhaus. Auch beim Innenausbau tat sich einiges, auch wenn davon heute so gut wie nichts mehr zu sehen ist: Auch hier war mit dem „Deutschen Kaiser“ gleichzuziehen, der seitdem, was Ausstattung und Modernität anging, eindeutig in der Vorhand war. Darauf mußte Hoffmann selbstverständlich reagieren, und so wird man zumindest das ins Erdgeschoß der beiden kleinen Seitenflügel eingebaute Gesellschaftszimmer mit seiner getäfelten Decke für diese neunziger Jahren in Anspruch nehmen.
1911 warb das Hotel in der vom Magistrat herausgegebenen Perleberg-Broschüre folgendermaßen: Hotel „Stadt London“ – Renommiertes Haus 1. Ranges – Diners an kleinen Tischen von 12 ½ bis 2 ½ Uhr, à la Carte zu jeder Tageszeit. – Gut gepflegte Weine und Biere. Badezimmer. Autogarage. Säle für Festlichkeiten. Telephon Nr. 1. Zivile Preise.“[11] An anderer Stelle wird in der Broschüre auf den eigenen Garten verwiesen: Er war auf dem heutigen Grundstück Karl-Marx-Straße 6 bereits 1893 eröffnet worden und bestand, mit einem Pavillon ausgestattet, samt Eiskeller bis 1926. [12] An Baumaßen ist in der Zeit Wilhelm Hoffmanns, was Bauakten angeht, nur noch der Einbau einer Zentralheizung im Jahre 1909 zu verzeichnen.
Daß das Geschäft gut lief, kann man auch aus Erwerb und Bebauung der Grundstücke Karl-Marx-Straße 5 und 6 ersehen. Um so wichtiger ist, daß es dank rechtzeitig betriebener oral history eine Quelle gibt, die einen Blick hinter die Fassade des „Hauses 1. Ranges“ erlaubt. [13] Die siebzehnjährige Helene W. machte 1911/12 im Hotel eine einjährige Lehre als Köchin. Ihre Schilderung des Arbeitsalltags zeigt, wie sehr die Rentabilität des Hauses auf die maximale Ausnutzung des Dienstpersonals gegründet war: Dienstzeit von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends, wenn entsprechende Gäste kamen, auch bis tief in die Nacht verlängert; ständige Überwachung, kaum einmal Erlaubnis, das Haus zu verlassen („Ausgang“) und die Mutter zu besuchen, Arbeit nicht nur in der – technisch durchaus primitiven – Küche, sondern auch Reinigungsarbeiten („Tische scheuern, Fenster putzen“). Spülarbeiten waren zu jeder Jahreszeit im Hof an der Pumpe zu leisten – die Küche hatte zwar fließendes Wasser, doch das mußte bezahlt werden.
Und die Glanzseite: „Das Hotel hatte, wie alle Hotels in Perleberg, eine Ausspannung, also Kutschen konnten aufn Hof fahren, und da waren mehrere Pferdeställe, wo die ausspannen konnten, die Gutsbesitzer, und da sind öfter welche gekommen mit ihren Kutschen: Gans Edler Herr zu Putlitz, von Wilamowitz-Möllendorff aus Krampfer, von Kalckreuth, also die Krautjunker, die Sorte. Die sind oft schon vormittags vorgefahren, haben sich in den Speisesaal gesetzt und Finessen bestellt, die erst besorgt werden mußten: Langusten, Hummer, Kaviar, wo auch damals nur ein halbes Pfund schon dreizehn Mark kostete, und das nur als Vorspeise.“ [14]
Bei Kriegsausbruch 1914 erschien der für den Kosmopolitismus des 19. Jahrhunderts so charakteristische Name „Hotel Stadt London“ nicht mehr tragbar, England war zum Feind geworden. Genau eine Woche nach de Kriegserklärung seitens des Deutschen Reiches gab Hoffmann in einer Zeitungsannonce kund: „Gestern nachmittag habe ich das an meinem Hotel fast hundert Jahre befindlich gewesene Geschäfts-Schild „Hotel Stadt London“ beseitigen lassen. Ein seit dem 1.August bestelltes neues Schild wird sofort nach Fertigstellung desselben an meinem Gasthause angebracht werden. Bestellungen jeder Art bitte ich nunmehr nur an Hoffmann’s Hotel zu richten. Hochachtungsvoll Wilhelm Hoffmann.“ [15] Der Schritt erfolgte nicht ganz freiwillig, sondern offenbar unter massivem Druck der Kundschaft, der Hoffmann um sein Geschäft fürchten ließ: Das Schild war ja das wenigste, es mußte vielmehr das gesamte Porzellangeschirr ausgewechselt werden, das den alten Namen trug. [16]
Mit dem 1. Weltkrieg begann eine Zeit des Niedergangs. Der Urenkel Georg Emmermann erinnert sich: „Wegen des Krieges war die wirtschaftliche Lage von ‚Hoffmanns Hotel‘ schlecht; zwei Söhne gefallen, beide Töchter aus dem Haus, kein Geld unter den Menschen. … Auch die unmittelbare Nachkriegszeit 1918-1922 brachte keine Besserung der wirtschaftlichen Lage. Wilhelm Hoffmann starb 1920, die Inflation überzog das Land. Meine Urgroßmutter verkaufte das Hotel schweren Herzens für Inflationsgeld an den damaligen 1. Kellner…“ [17]
Letztere Nachricht paßt allerdings schlecht zu den Bauakten. Denn wenn 1929 Gustav Hölzke das Erdgeschoß des Hotels in die Form brachte, die es bis zum Brand 2010 beibehielt, dann tat er dies vermutlich als Pächter. Offenbar ging es, kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, wieder besser. Die auffälligste Neuerung Hölzkes war der Einbau der großen korbbogigen Fenster in die Straßenfassade – eine längst fällige Reaktion. Nicht nur das Café-Restaurant Roland am Markt hatte sie seit seiner Etablierung 1914. Auch beim „Deutschen Kaiser“ hatte man inzwischen die Torfahrt geschlossen und stattdessen den bestehenden großen Speiseraum mit den zwei großen Fenstern eingebaut. Der Fensterumbau von „Hoffmanns Hotel“ war also nur das äußere Anzeichen eines genau gleichen Erweiterungsvorhabens: Zu diesem Zeitpunkt wurde auch der große Speisesaal mit der tragenden Stütze geschaffen und mit einer neuen hölzernen Verkleidung versehen. Eine entsprechende Ausstattung erhielt auch der kleinere Gastraum rechts des Eingangs.
Für die dreißiger Jahre heißt es: „’Hoffmanns Hotel‘ florierte wieder. In Nah und Fern hatte es einen guten Ruf, mit Restauration und Saal stand es für Einheimische und Gäste offen. Urgroßmutter Frieda erlebte diesen Aufschwung mit ihren Töchtern…“ Auch diese Sätze lassen vermuten, daß die Familie Hoffmann am Geschäft durchaus noch beteiligt war.
1934 beantragte Hölzke den Einbau einer hölzernen Treppe im Obergeschoß des kurzen zweiten Fachwerkseitenflügels als Zugang zur offenbar gleichzeitig in Errichtung befindlichen Galerie im Saal. Das Stadtbauamt reagierte umgehend. Die Bauerlaubnis wurde versagt, der Saal wegen nicht gewährleisteter Sicherheit im Brandfall für alle öffentlichen Veranstaltungen geschlossen, private Veranstaltungen sollten nur für Teilnehmerzahlen unter 100 Personen erlaubt sein. Die Verfügung wurde im Januar 1935 vom Regierungspräsidium in Potsdam ausdrücklich bestätigt. Damit war Hölzke zu einer Neukonzeption des Saalbetriebs gezwungen, was vor allem einen vollständigen Umbau des Zwischenbaus nach sich zog: Das Erdgeschoß wurde und hofseitig, statt der bisherigen Balkendecke, mit preußischen Kappen geschlossen, um als Garage den feuerpolizeilichen Anforderungen zu genügen. Gassenseitig entstand dagegen als zweiter Fluchtweg aus dem Saal ein eigenes Treppenhaus, das zur Gasse die heutige Türöffnung erhielt. Für die beabsichtigte Nutzung ist interessant, daß im Obergeschoß eine Bühne errichtet wurde, zwei Türdurchbrüche bezogen das Obergeschoß des Hinterhauses ein, der hofseitige führte zur Garderobe – damit sollte offenbar die Möglichkeit zu Theateraufführungen geschaffen werden.
Hoffmann´s Hotel 1936
Ungeachtet dieser erheblichen finanziellen Belastung scheint der Betrieb von Hotel und Saal aber noch entsprechend gewinnbringend gewesen zu sein. Denn 1938 übernahm Hölzke das Grundstück auch als Eigentümer. Im „Kreisblatt für die Westprignitz“ vom 21.3.1938 annoncierte er: „Mit dem heutigen Tage habe ich „Hoffmanns Hotel“ käuflich übernommen. Ich bitte Stadt und Land, das dem Hause Hoffmann so lange Jahre bewiesene Vertrauen auf mich übertragen zu wollen. Es wird mein Bestreben sein, den Betrieb in altbewährtem Sinne weiterzuführen.“ [18] Es ist aber anzunehmen, daß es – auch der Saalumbau sagt das – inzwischen schwer fiel, mit dem „Deutschen Kaiser“ mitzuhalten. Selbstbewußt annoncierten dessen Besitzer, die Geschwister Brinker, 1935 ihr Hotel als „Erstes Haus am Platze“. [19]
Man wüßte überhaupt gern, wie sich Hotelnutzung und Besucherstruktur zwischen 1914 und 1945 verändert haben. Es ist bekannt, daß es unter den Perleberger Hotels und Gasthöfen eine starke soziale Differenzierung gab. Daß „Hoffmanns Hotel“ aber seinen um 1900 eingenommenen Rang noch in den dreißiger Jahren aufrecht erhalten konnte, ist – das Haus war inzwischen 150 Jahre alt – nicht gerade wahrscheinlich. Man fragt sich z.B., wie die Situation sich in der Mangelwirtschaft der Kriegsjahre darstellte. In den folgenden Jahren sind jedenfalls nur kosmetische, aber zeittypische Änderungen am Eingang zu verzeichnen. 1935 wurde rechts des Eingangs die typische Schultheiss-Tafel angebracht, 1936 über der Tür eine halbkreisförmige zweischichtige Überdachung als von innen beleuchtete Werbeanlage („Transparent“), die Kuppel mit der Aufschrift „Hotel“, der Sockel mit dem Namen des finanzierenden Lieferanten Schultheiss versehen. Offenbar war man damit wenig glücklich. Denn schon zwei Jahre später wurde der Vorbau durch zwei erhaltenen Laternen mit gleicher Firmenaufschrift ersetzt.
Die Hölzke-Ära muß in den Kriegsjahren zu Ende gegangen sein, denn 1944, anläßlich der letzten Baumaßnahme vor Kriegsende, figuriert bereits Oskar Kühne als Besitzer: Das Dach war, wie der beauftragte Dachdeckermeister zu Buche gab, dermaßen beschädigt, daß eine sofortige Umdeckung nötig sei. Dem Antrag auf Ausnahme vom kriegsbedingten Bauverbot wurde daraufhin stattgegeben. Der Saal diente von einem bestimmten Zeitpunkt an – 1942? – als Hilfslazerett. Dies, wie ich mündlich von einem Nachkommen eines dort gepflegten Soldaten erfuhr, bis in die letzten Kriegstage.
Nach Kriegsende konnte Oskar Kühne das Haus noch bis 1947 als Hotel weiterführen. Aber auch danach blieb er weiterhin Eigentümer. 1948-52 diente das Haus der öffentlichen Verwaltung, 1953 bis 1992 saß hier die Verwaltung der Kreis-Konsumgenossenschaft. Die Bauakten enthalten nur zwei Angaben aus der ganzen Zeit: 1954 wurden zwei Kamine eingebaut, und 1970 war eine Holzverdachung über der Torfahrt so schadhaft, daß sie abgerissen werden mußte: Die Tochter des Besitzers stellte dazu einen Bauantrag, der Bauschein ist noch auf Oskar Kühne ausgestellt. Der Saal wurde weiter auch für Veranstaltungen und durch eine Tanzschule genutzt. 1982 wurde das Grundstück glücklicherweise unter Denkmalschutz gestellt.
Das Haus blieb, und dies bis 2012, im Besitz der Erben. Anfang 2000 wurde bekannt, daß sie verkaufen wollten, [20] doch es fand sich kein Käufer. Nach der Wende mußte ein neuer Nutzer gefunden werden. Ein Freizeittreff wurde kurzzeitig eingerichtet, ab 1993 nutzte das CJD die Gebäude, allerdings nur bis 1999. 1995 begann der letzte Erbe mit ersten Maßnahmen. Mitten in den Ausbau hinein setzte der vom Saal ausgehende Brand dem ein Ende.
2012 folgte ein Besitzerwechsel, um den Verfall zu stoppen. Zumindest konnte in Eigenaktivität der AG Stadt der brandgeschädigte Dachstuhl des Vorderhauses wieder stabilisiert und eine provisorische Dachhaut aufgebracht werden. Ab September 2013 wurde mit Mitteln von Bund und Land eine Notsicherung des Vorderhauses durchgeführt, die sich zunehmend weniger mit den Brandfolgen als den durch eine Anzahl von Baufehlern verursachten Verziehungen des Tragwerks zu beschäftigen hatte. So ist das Haus nunmehr immerhin statisch gesichert und mit einem neuen Ziegeldach versehen. Der Saalbau ist zumindest als Ruine gesichert, das Bühnenhaus – der Zwischenbau – ist vollständig erneuert und dient, durch eine Brandmauer vom Saal getrennt, als Atelier. Das Hinterhaus bildet mit Atelier und Stallgebäude seit 2013 ein eigenes Grundstück, es ist saniert und wieder bewohnt.
Dieter Hoffmann-Axthelm, Perleberg 2015
[1] Es kann sich hier nur umerste Brocken handeln. Das Stadtarchiv ist derzeit nicht zugänglich, und die Bauforschung ist auch noch nicht so weit vorangetrieben, während die allgemeine Perleberg-Literatur zu diesem ersten Haus am Platz weitestgehend schweigsam ist.
[2] Einmal Berlin und zurück im Frühjahr 1683. Die Reise des Reichsfreiherrn Dodo II. Zu Innhausen und Knyphausen auf Lütetsburg in Ostfriesland als Präsident der Ostfriesischen Landstände im Frühjahr 1683 nach Berlin an den Hof des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, berichtet von einem ungenannten Begleiter. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Kommentar versehen von Ingeborg Nöldeke (Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins Heft 64), Berlin 1989
[3] Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989, 59f.
[4] Peter Dittler, Der „Deutsche Kaiser“. Eine Plauderei über eine Perleberger Institution, Deutscher Kaiser, Perleberg/Wittenberge 2014
[5] Das Geheimnis von Perleberg. Gesammelte Schriften über das Verschwinden Lord Bathursts in Perleberg, zusammengestellt von Franz Grunick, Perleberg 1936
[6] Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Leben, bearb. v. K. Leutner, 3.A. Berlin (DDR), 259
[7] Franz Grunick, Chronik der Kreis- und Garnisonstadt Perleberg, Perleberg 1939, 80f.
[8] aaO., 81
[9] MAZ v. 28.4.2010
[10] Grunik, Chronik, aaO., 109
[11] Perleberg und seine Umgebung, hg. vom Magistrat der Stadt Perleberg, 73
[12] MAZ v. 2.2.2000 sowie 28.4.2010
[13] Wolfgang Noa, Leben in Preußen. Sieben Porträts, Berlin /Weimar 1983: Helene W., geboren 1894, 15-17. Den Hinweis verdanke ich Ulrich Teschner.
[14] AaO., 16
[15] Kreisblatt f.d. Westprignitz v. 8.8.1914. Für den Hinweis danke ich Frau Gniegan vom Stadtarchiv Perleberg.
[16] Prignitzer v. 2.2.2000
[17] Prignitzer v. .2.2000
[18] AaO., 31.3.1938
[19] Reproduktion bei Dittmer, aaO.
[20] MAZ v. 14.1.2000